Kollektives Gedenken und Erinnern ist ein Prozess, ein wichtiger Bestandteil um schreckliche Ereignisse niemals vergessen zu lassen und Wiederholungen zu vermeiden. Erinnerung an die grausamen Verbrechen, die den Jüd:innen in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 zugefügt worden sind.
Im herbstlichen Sonnenschein trafen wir einander an der Ecke Dingelstedtgasse /Turnergasse im 15. Wiener Gemeindebezirk. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde hier eine der bedeutendsten Synagogen Wiens, der Turnertempel, in Brand gesetzt und zerstört. Nach einer langen Geschichte wurde der Ort 2011 von den Kunstschaffenden Iris Andraschek und Hubert Lobnig gestaltet. Herr Lobnig und Frau Andrascheck erzählten uns ihre Begegnung mit dem Ort, den Menschen, ihre Inspirationen und Assoziationen und letztendlich die Methode und Umsetzung ihres Kunstprojektes am Turnerplatz.
Gemeinsam spazierten wir weiter zur Herzklotzgasse 21. Ursprünglich wurde das Haus 1869 als Volksschule errichtet, mit einer Turnhalle im Hof. 1906 von der Philanthropin Regine Landeis gekauft und Fürsorge-Vereinen zur Verfügung gestellt. Bis 1927 waren dort u.a. Horteinrichtungen, ein jüdischer Kindergarten, Ausspeisungsvereine für arme jüdische Kinder, der Turnverein Makkabi, eine Heimstätte sowie ein Kriegswaisenhaus untergebracht. Der Festsaal des Hauses wurde von allen Vereinen benützt, war aber auch Treffpunkt jüdischer Frontkämpfer, Jugendlicher oder wurde für das Abhalten von Gottesdiensten genutzt.
Einige Vereine arbeiteten auch nach den Novemberpogrom 1938 weiter, wie etwa der Ausspeisungs- und Turnverein. Ebenso wurden legale sowie illegale Auswanderungen von hier aus geplant und organisiert. Zudem konnten aus ihren Wohnungen Vertriebene hier einen Zufluchtsort und ein Nachtquartier finden. 1939 wurde das Haus arisiert und gekauft, 1952 an die Israelitische Kultusgemeinde zurückgegeben. 1990 kaufte der Patentanwalt Thomas Haffner das Haus der IKG ab. Jetzt befindet sich ein Gedenkverein, ein Lokal, ein Veranstaltungssaal (ehem. Vereins- und Turnsaal) sowie soziale Organisationen und Künstler*innen im Haus der Herzklotzgasse 21.
Weiter führte unser Spaziergang über die Herzklotzgasse zur Reindorfgasse 17. Vor diesem Haus wurden Gedenksteine gelegt, wie sie an vielen Hauseingängen in Wien zu sehen sind, die an dort vertriebene Jüd:innen erinnern. Herr Breth vom Verein Steine des Gedenkens erklärte und erzählte wie und warum die Steine ein wichtiger Teil für das Gedenken und Erinnern sind. Teilweise kommen die von dort vertriebenen Menschen oder Angehörige zurück, um gemeinsam die Einweihung der Steine zu feiern.
Wir spazierten die Reindorfgasse hoch Richtung Westbahnhof. Am Weg sind wir in der Grenzgasse nochmal an weiteren Gedenksteinen vorbeigekommen bis wir an einer Ecke, mit Blick auf die Gleise des Westbahnhofes, einen schönen Ort fanden um dort den Anfang eines Gedichtes von Walter Lindenbaum (1907-1945) „Juden am Bahnhof“ zu lesen. Walter Lindenbaum war ein jüdischer Autor und Journalist, zudem Sozialdemokrat. Seine Familie und er selbst wurden noch vor Kriegsende von den Nationalsozialisten ermordet.
Im Inneren des Westbahnhofs angekommen versammelten wir uns rund um das Mahnmal „Für das Kind“, das 2008 hier errichtet wurde. Das Denkmal stammt von der Künstlerin Flor Kent und soll an die Kindertransporte nach England ab 1938 erinnern. Damals wurden tausenden von Kindern, die meisten jüdisch, vor den Nationalsozialisten so gerettet.
Das Kind, das für das Denkmal Model gesessen ist, ist der Urenkel einer Frau, die 1938 ihre Eltern bei den Novemberpogromen verloren hatte und mit einem der Kindertransporte nach England geschickt wurde. Die teilweise moderne Kleidung des Kindes soll Vergangenes mit Gegenwärtigem verbinden – die Erinnerung in die Gegenwart ziehen.
Am Bahnsteig 5 entlang fanden wir eine geschriebene Erinnerung von einem der Kinder, die nach England zur Rettung geschickt wurden. Eine Situation des Verabschiedens, der letzten Ratschläge der Eltern, die zurückgelassen wurden und die Hoffnung auf Rettung die dort zu lesen ist. Zwischen den Zeilen ist die Traurigkeit des Abschieds und der Ungewissheit beim Lesen spürbar.
Einmal über den Gürtel und ein kurzes Streifen des Christian-Broda-Platzes lässt uns in die Stumpergasse einbiegen. An der Ecke Schmalzhofgasse stand einst das Gebets- und Vereinshaus der „Stumper-Schul“, welches wie so viele in der Nacht von 9. auf 10. November zerstört wurde.
An alle Stellen der zerstörten Synagogen und Gebetshäusern können wir leuchtende Davidsterne finden (in etwa in der Größe einer Straßenleuchte). Die Lichtinstallationen wurden im Gedenkjahr 2018 von den Kunstschaffenden Brigitte Kowanz und Lukas Maria Kaufmann entworfen und errichtet. Mittels QR Code kann eine virtuelle Rekonstruktion des jeweiligen Gebetshauses abgerufen werden. Die Sterne sollen nicht nur für die Erinnerung stehen, sondern sind auch als Zeichen gegen Diskriminierung zu lesen.
Auf dem Weg zu unserer letzten Station des Gedenkspazierganges kommen wir noch an weiteren Steinen des Gedenkens vorbei. Angekommen am „Ziel“, der Evangelischen Kirche auf der Gumpendorfer Straße, erzählt uns Leo Jungwirth die Geschichte sowie die Rolle dieser evangelischen Kirche im Rahmen des Nationalsozialismus, der Novemberpogrome. Es ist keine positive Geschichte, mehr als Entschuldigung der Kirche an seiner Mittäter:innenschaft anzusehen.
Vielen Dank für die Beiträge während der Führung an Leo Jungwirth, Iris Andraschek und Hobert Lobnig sowie Thomas Breth und allen anderen für das gemeinsame Gehen und Gedenken!