In der Nacht vom 9. November, des Jahres 1938, zogen dunkle Wolken auf. Es roch verbrannt, eine furchteinflößende Stimmung durchzog die feuchte Novemberluft. Im gesamten Deutschen Reich brach eine Welle der Gewalt über die jüdische Bevölkerung herein. Ein aufgestachelter Mob zog durch die dämmrigen Straßen, erniedrigte und plünderte die jüdische Bevölkerung, ihre Gebetshäuser, Geschäfte und Wohnungen. Es brannten Stadtteile, Scherben barsten, Menschenmengen grölten und johlten und trieben bewaffnet ihre Nachbarinnen und Nachbarn durch die Straßen.
Am 26. Oktober und auch am 6. November 2021 ist in Wien der Himmel strahlend blau und die Luft wunderbar klar. Die Stadt scheint ruhig, es gibt wenig Verkehr, man hört die Vögel in den rot und braun belaubten Bäumen zwitschern. Es treffen sich über 60 Gedenkende aller Altersgruppen am Sebastianplatz im dritten Wiener Gemeindebezirk. Sie wollen der Novemberpogrome gedenken, ein Zeichen setzen. Der Name verrät es schon im Vorhinein: der Gedenkspaziergang ist lang. Tatsächlich erstreckt er sich über ein Achtel der Länge eines Marathons, doch das bekümmert hier niemanden. Es gibt Teilnehmer:innen mit Knieproblemen, Gehstock oder gar im Rollstuhl sitzend. Nicht eine Person möchte die angebotene Abkürzung per Bus in Anspruch nehmen. Womöglich ist es der Anlass, der zusätzlich Motivation verschafft und die bevorstehenden Strapazen nichtig erscheinen lässt.
Nach einer kurzen Begrüßung seitens des ASH - Forum der Zivilgesellschaft übernimmt Herr Thomas Breth vom Verein Steine des Gedenkens das Wort und erzählt die irritierenden Geschichten um die Fenster, der sich vor Ort befindlichen Pauluskirche. Judenfeindliche Motive ‚schmücken‘ die Kirchenräume. In den späten 60ern wurden diese bei einem bekannten Nazi-Künstler in Auftrag gegeben. Heute rumort es in der Kirchengemeinde. Die einen fordern eine umfassende Umgestaltung, anderen scheint dieses Bestreben aufzustoßen: Eine kleine kommentierende Tafel, die sich, im Namen offenbar nicht aller Gemeindemitglieder, von der Symbolik der judenfeindlichen Gestaltung der Fenster distanziert, wurde schon mehrfach abgebaut und demonstrativ in den Müll befördert.
Mit gemischten Gefühlen verlässt die Menge die Kirche, um den Gedenkspaziergang anzutreten. Gesprächsthema ist das Gesehene: soll man Rücksicht nehmen auf jene, die sich provoziert fühlen, eine konsensuale Lösung finden? Muss man auf jene überhaupt Rücksicht nehmen, die sich von der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte provoziert fühlen? Oder soll man einfach mit dem Umgestalten beginnen und mögliche Konflikte in der Gemeinde in Kauf nehmen? Diskutierend gehen die Teilnehmer:innen an einigen Steinen des Gedenkens vorbei, am Stadtpark hoch zur Inneren Stadt. Bevor sie die nächste Kirche betreten, halten sie bei weiteren Steinen der Erinnerung und gedenken der Opfer des Holocaust. Hinter der Staatsoper erfährt auch das erste Opfer rechtsextremer Gewalt in der zweiten Republik, Ernst Kirchweger, Erwähnung. Ein Teilnehmer des Gedenkspazierganges bezeugt den tragischen Vorfall, er war während der verhängnisvollen Konfrontation im März 1965, während der Demonstration gegen den bekennenden Nazi-Professor Taras Borodajkewycz, in der Nähe des Schauplatzes.
In der Dorotheergasse angekommen, erfährt die Gruppe von einer weiteren gegenwärtigen Auseinandersetzung einer Kirchengemeinde mit ihrer eigenen Geschichte. Recherchen zu Namen auf dortigen Gedenktafeln haben ergeben, dass ein Gemeindemitglied als Arzt am Spiegelgrund aktiv die grausamen Machenschaften leitete! Lange hat man überlegt, was man mit der Präsenz eines derart belasteten Namens auf einer Gedenktafel tun könne. Umgestalten, kommentieren, verhängen? Letztlich kam es zu einer überaus gelungenen neuen Gedenktafel, die an alle Opfer gedenkt und für alle Zeiten der Verblendung mahnen soll.
Die Gedenkenden ziehen diskutierend weiter. Die einen emotional erfasst und leise kontemplierend, die anderen in Diskussionen rund um österreichische Gedenkkulturen verwickelt. Durch den ersten Bezirk hindurch kommt man noch an weiteren Steinen der Erinnerung vorbei, hält inne, eine Minute der Stille. Doch als die Gruppe am Parkring entlanggeht und plötzlich der beschmierte Altbürgermeister Karl Lueger von oben auf sie herabblickt, erhitzen sich die Gemüter. Sie diskutieren rege, äußern Entsetzen und Verwunderung über die Haltung und Rhetorik Luegers und schlagen Möglichkeiten vor, das Denkmal umzugestalten.
Der Gedenkachtelmarathon dauert nun schon über zwei Stunden, wärmender Tee hilft gegen die Kälte. Der Marsch geht weiter zur Unteren Viaduktgasse 13, wo die ehemalige Synagoge des Tempelvereins ‚Beth Hachneseth‘ zu finden ist. 17 Jüdinnen und Juden lebten einst an dieser Adresse, die meisten wurden in KZs inhaftiert und ermordet oder ihr Schicksal ist unbekannt. Die Namen der Opfer werden vorgelesen und es wird erneut ganz still.
Bald geht es weiter, zur letzten Station des Gedenkspazierganges. In der Kegelgasse findet sich der Gedenkzug vor der Tafel wieder, die von der Wiener Gesera berichtet, einem großen Pogrom im Mittelalter. Kaum zu glauben, was da vor einem halben Jahrtausend geschehen ist; kaum zu glauben, dass der Antisemitismus noch immer nicht aus unserer Gesellschaft verschwunden ist. Es zeichnen sich Kontinuitäten ab. Offenbar halten sich Stereotype und Misstrauen gegenüber Jüdinnen und Juden durch Jahrhunderte hindurch.
Nach über 3 Stunden Gedenkzeit gibt es einige offene Fragen, neue Erkenntnisse und ein klares, einendes Credo: So soll unsere Gesellschaft nicht sein, so wollen wir nicht sein! Antisemitismus hat bei uns keinen Platz! Wir stellen uns der gesellschaftlichen Konfrontation und wir gedenken weiterhin. Wir vergessen nicht!