Definitiv befinden auch wir uns in einer Bubble, was das eigene Umfeld oder die Expert:innensuche anlangt. Aber wir bemühen uns. Die Parlamentsklubs, die sich in den laufenden Koalitionsverhandlungen zumindest in dieser Forderung einig sind, sind lange still. Dann kommt eine Antwort von der ÖVP – sie würden jemanden schicken. Expert:innen aus der Wissenschaft oder Zivilgesellschaft nennen sie nicht. Wir entscheiden uns für zwei Perspektiven: Fabian Reicher, Jugendsozialarbeiter bei boja und Beate Matschnig, ehemalige Jugendrichterin in Wien.
Beide sind sich einig, dass straffällig gewordene Jugendliche nicht erst im Anlassfall Konsequenzen erfahren müssen. Vielmehr ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, jungen Menschen ein gutes und straffreies Leben zu ermöglichen. Denn, so Matschnig: „Kein Kind kommt böswillig auf die Welt!“. Fabian Reicher weist darauf hin, dass Straffälligkeit mit Armut und schlechten Lebensbedingungen korreliert. Kindergrundsicherung, eine Reform des Schulwesens u.v.m. wären unbedingt nötig, um eine gute Entwicklung der Jugendlichen zu ermöglichen.
Und dann ist da noch das Phänomen der „jugendlichen Delinquenz“. Die Zeit der Adoleszenz ist eine Zeit, in der sich junge Menschen austesten, an und manchmal eben auch über Grenzen hinweg gehen. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenleben, dem Beginn einer beruflichen Tätigkeit, stabilen Beziehungen etc. legt sich oft der jugendliche Leichtsinn. Entscheidend ist aber, wie mit straffällig gewordenen Jugendlichen umgegangen wird. Sprich, welche Konsequenzen ihnen drohen. Lassen diese eine Reflexion der eigenen Taten zu? Können sie die jungen Menschen – und dafür ist das Jugendstrafrecht schließlich da – für die Gesellschaft zurückzugewinnen?
„Mein Job ist, in Beziehung zu treten!“ meint Fabian Reicher, der seit Jahren eng mit Jugendlichen zusammenarbeitet – zunächst als Streetworker und heute bei boja (Bundesvertretung der Offenen Jugendarbeit). Der Aufbau von Beziehungen ist auch in einem „Zwangskontext“ möglich. Spricht man von der Notwendigkeit von Beziehungsarbeit und intensiver Betreuung der Jugendlichen werden häufig fehlende finanzielle Mittel als Gegenargument angeführt. Matschnig weist darauf hin, dass „ein Tag im Häfn 500,-. kostet. Um das Geld wird man es ja wohl hinkriegen.“
Sehr kritisch wurde die Rolle der Medien besprochen. Medienhäuser, vor allem der Boulevard, müssen ihre Berichterstattung zu Straftaten von Jugendlichen überdenken. Die große Öffentlichkeit, v.a. für Attentate im Namen des IS oder anderer extremistischer Gruppen, befeuert die Täter:innen in ihren Aktionen. Auch für uns ergeht ein "Call to Action": Kontakt aufnehmen mit den Medienhäusern und ihre Berichterstattung in Frage stellen, in den Kommentaren Gegenstimme sein usw.
Es ist nicht die Aufgabe der Gesetzgebung, die Öffentlichkeit zu befriedigen, sondern gute gesellschaftliche Lösungen zu erarbeiten. Lange Zeit hatte Österreich eine europaweite Vorreiterrolle im Umgang mit jugendlichen Straftäter:innen. In Matschnigs aktiver Zeit machten Richter:innen Haftvisiten bei den Jugendlichen. Dieses Vorortsein sei wichtig gewesen, um nicht die Realitäten aus den Augen zu verlieren und bessere Entscheidungen im Sinne des/der Einzelnen und der Gesellschaft treffen zu können. Die Haftvisiten gibt es nicht mehr, den Jugendgerichtshof auch nicht. Es ist höchste Zeit für Österreich wieder der Vorreiterrolle gerecht zu werden.
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Die Veranstaltung "Time-Out. Jugendliche im Strafrecht" fand in Kooperation mit Juvivo statt. Gefördert von der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung. Moderation Marlene Nowotny.
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